Wien um 1900: Eine lebendige Großstadt, kulturelle Vielfalt und das Erwachen bürgerlichen Kunstinteresses. Und mittendrin Ferdinand Schmutzer, Mitglied der Wiener Secession, Rektor der Akademie der bildenden Künste, berühmter Portraitkupferstecher und – bislang nicht bekannt – brillanter Amateurfotograf. (1)
Von 1894-1928 portraitiert Schmutzer namhafte Künstler, Industrielle und Wissenschaftler, macht private Familienbilder und faszinierende Reise-, und Landschaftsfotografien. Über 3000 erhaltene Glasplattennegative zeugen von einer besonderen Lust am Fotografieren und dokumentieren mit erstaunlicher Qualität alltägliche und besondere Momente zu Anfang des letzten Jahrhunderts. Schmutzer verwendete die Aufnahmen primär als Vorlage für seine gefragten Kupferstiche, erst 2008 erschien im Moser Verlag eine Publikation, die sein fotografisches Werk der Öffentlichkeit zugänglich macht.
Auf dem schwarzen Leineneinband begegnet uns ein junger Albert Einstein, den sinnierenden Blick leicht verschmitzt an der Kamera vorbei lenkend, weitere Portraits zeigen Sigmund Freud, Richard Strauss oder Arthur Schnitzler. Einige Aufnahmen offenbaren eine Liebe zur spielerischen Inszenierung, in die klassisch repräsentative Portraitvorgaben einfließen. So sehen wir Schmutzer selbst, in „Uniform und Pose des deutschen Kaisers Wilhelm II“ (S. 30), dessen Bild sich einige Seiten weiter findet, oder die Schauspielerin Else Wohlgemuth tritt als Maria Stuart auf. Hinzu kommen wunderbar unbeschwerte Fotos von Familie und Freunden, welche die Zeit um die Jahrhundertwende lebendig werden lassen: Ein kleines Kind krabbelt nackt über den Boden, bei gemeinsamen Ausfahrten im offenen Automobil trägt man Schutzbrillen gegen den Fahrtwind und die Hüte von Schmutzers Frau Alice – mal mit Blumen, mal mit Schleifen, immer groß – offenbaren die modischen Vorlieben der Zeit.
Auch die Damenkostüme auf den Gartenfesten der Familie Wittgenstein sind spektakulär. Hinzu kommen Fotos von Windmühlen und Trachten aus Holland, von Mönchen aus Assisi und Bilder von Sinti und Roma, die während zahlreicher Reisen Schmutzers entstanden. Die Portraits sind meist vor weißem oder neutralem Hintergrund aufgenommen, manche Negative wurden nachträglich übermalt, wodurch ihr Charakter als Vorlage für Schmutzers Druckgrafik zu Tage tritt. Nicht alle Bildtafeln sind perfekt ausgeführt, es finden sich unscharfe Stellen ebenso wie Farbfehler, Flecken oder Kratzer – und doch schimmert gerade durch diese kleinen Unvollkommenheiten eine sensationelle Intimität und Freude am Fotografieren. Die qualitativ hochwertigen Schwarzweißabbildungen heben sich glänzend von dem grauen Hintergrund des Papiers ab und schaffen es, im Buch die poetische Stimmung der Originale zu vermitteln.
(1) Biografische Informationen sowie eine knappe Verortung finden sich in der Einleitung zum Band, S. 6f.
Ferdinand Schmutzer. Das fotografische Werk 1894-1928, hrsg. Von Regina Maria Anzenberger, Uwe Schögl, München 2008.