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Vanessa Winship: She dances on Jackson

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Vanessa Winship gehört nicht zu den Bekanntesten in der internationalen Fotografieszene – in Deutschland und selbst in ihrer Heimat Großbritannien muss das Werk der 58-Jährigen noch entdeckt werden. In Spanien und Frankreich hingegen hat sie sich längst einen Namen gemacht: 2011 erhielt sie – als erste Frau überhaupt – den renommierten International Award der Fondation Henri Cartier-Bresson. 2014 hatte sie in der Fundación Mapfre in Madrid eine umfangreiche und äußerst eindrucksvolle Retrospektive, zu der eine nicht minder eindrucksvolle Publikation erschien, die einen hervorragenden Überblick über ihre Arbeiten der zurückliegenden 15 Jahre liefert.

Vanessa Winship, Ausst.Kat. Fundación Mapfre, 2014

Und dieses Œuvre erweist sich als überaus vielschichtig und abwechslungsreich und lässt von Serie zu Serie die Entwicklung einer Fotografen-Persönlichkeit nachvollziehen. „Imagined States and Desires: A Balkan Journey“ aus den Jahren 1999 bis 2003 wirkt noch wie eine klassische und dadurch auch ein wenig zeitlose Fotoreportage über Albanien und den Kosovo der Nachkriegsjahre. Winship ist da noch die stille Beobachterin, die den Alltag dokumentiert und dabei immer wieder auch absurde Momente voller Poesie entdeckt. In ihrem Langzeitprojekt „Schwarzes Meer“ vermischt Winship hingegen die Stile miteinander. Es ist eine Arbeit über die Menschen in den sechs Ländern rund um das Schwarze Meer, das reich an Kultur, Geschichte und Mythen ist. Ein sehr komplexes Thema also – inhaltlich wie geografisch. Neben ihren Reportagefotos fallen hier besonders ihre Ganzkörperporträts von türkischen Ringern und weiblichen Hochzeitsgästen in der Ukraine auf. Die Männer und Jungs mit ihren nackten, glänzenden Oberkörpern platzen fast vor Stolz und Selbstbewusstsein, im krassen Gegensatz dazu sehen wir feierlich gekleidete Frauen in Wintermänteln, denen das Fotografiertwerden nicht ganz geheuer zu sein scheint.

 

Innenseiten aus: Vanessa Winship, Schwarzes Meer, hrsg. von Nikolaus Gelpke, 2007

Überhaupt sind Porträts die ganz große Stärke von Vanessa Winship. Für ihre Serie „Sweet Nothings: Schoolgirls of Eastern Anatolia“ hat sie Schülerinnen fotografiert – alleine, zu zweit oder zu dritt. Gekleidet in der typischen Schuluniform spiegeln sie für Winship den Widerspruch zwischen den traditionellen Werten der ländlichen Türkei und der ostanatolischen Skepsis gegenüber der Staatsmacht wider. Es sind aber auch einfach großartige und ergreifende Porträts dieser Mädchen, die plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und nicht immer wissen, wie sie damit umgehen sollen.

 

Innenseiten aus: Vanessa Winship, Ausst.Kat. Fundación Mapfre, 2014

Ihr bisheriges Hauptwerk ist allerdings „She dances on Jackson“, das 2013 zum ersten Mal bei Mack Books erschienen ist und – völlig zu Recht – als eine der besten Neuerscheinungen des Jahres gehandelt wurde. Entsprechend schnell war es vergriffen. Nun hat der Verlag das Buch endlich in einer zweiten Auflage veröffentlicht. „She dances on Jackson“ ist ein Projekt über den Mythos des American Dream, das Winship mit dem Preisgeld des Henri Cartier-Bresson Awards verwirklichen konnte. Mehr als ein Jahr reiste sie mit ihrer Großformatkamera quer durch die Vereinigten Staaten – von Kalifornien an der West- bis Virginia an der Ostküste und von Montana im Norden bis New Mexico im Süden. Auch in diesem Werk finden wir ihre Sensibilität für die traurige Poesie des Alltags – egal, ob es sich auflösende Wasserringe auf einem See sind, die das Vergehen von Zeit und Möglichkeiten fast schmerzhaft vor Augen führen, oder das Reh, das auf der Böschung direkt neben dem Highway steht und das ein letzten Mal zurückzublicken scheint, bevor es sich an die gefährliche Überquerung macht.

 

Vanessa Winship, She dances on Jackson, 2018 (2. Aufl.), Innenseite

Aber auch in Winships Porträts hat sich etwas verändert. Die Menschen wirken sich selbst überlassen und innehaltend, fragend und desillusioniert. Winship wollte ihre Second-Hand-Informationen, wie sie sie nennt, über den amerikanischen Traum überprüfen und hat uns diese stillen Antworten der Einwohner mitgebracht. Das Porträtieren ist für sie die Möglichkeit, sich mit anderen, fremden Menschen zu verbinden – selbst, wenn es nur für wenige Minuten oder eine halbe Stunde ist. „Für mich ist ein Porträt das Anerkennen und das Begreifen, dass ein Mensch existiert. Natürlich weiß jeder Mensch, dass er existiert. Aber ich denke, dass es manchmal sehr wichtig ist, es auszusprechen. Es ist eine sehr schöne Erfahrung jemandem mitzuteilen, dass man denkt, dass er wichtig ist.“

 

Innenseiten aus: Vanessa Winship, She dances on Jackson, 2018 (2. Aufl.)

Mit dieser zutiefst humanistischen Haltung reiht sich Winship ein in die Porträttradition von August Sander, Rineke Dijkstra und Judith Joy Ross – und ist dabei dennoch völlig eigenständig und unverwechselbar. Es wäre wünschenswert, wenn ihre Bilder auch hierzulande in einem größeren Zusammenhang präsentiert werden würden. Verdient hätte sie es.


Vanessa Winship, She dances on Jackson, MACK Books, 2018 (2. Aufl.), ISBN 978-1-907946-36-3
Vanessa Winship, Ausst.Kat. Fundación Mapfre, 2014, ISBN 978-84-9844-468-1
Vanessa Winship, Schwarzes Meer, hrsg. von Nikolaus Gelpke, Mareverlag, 2007, ISBN 978-3-936543-95-7

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