Zu den editorischen Glanzleistungen im Bereich monographischer Dokumentation der Photographie im 20. Jahrhundert gehört ohne Zweifel die 2013 bei Steidl erschienene umfangreiche Kassette „The Unknown Berenice Abbott“, die in fünf fulminanten Bänden auf weitreichend unveröffentlichtes Material zurückgreift.
Wenn es in den letzten Jahren auf dem überhitzten Buchmarkt noch anspruchsvolle Projekte gegeben hat, die die abgebildeten Photographien in Hinsicht auf die Ausstattung einen Buches, also Typographie, Papierwahl, Gestaltung und Bindung, adäquat begleitet haben, dann gehört „The Unknown Berenice Abbott“ unzweifelhaft dazu. Nennen wir den Standard, den Steidl damit setzt, ruhig einen unverzichtbaren Luxus!
Kaum etwas Persönliches ist über Berenice Abbott bekannt. Als die Photographin im Dezember 1991 in Monsun, Maine verstarb, hatte sie mit der Wahl ihres letzten Lebensortes bereits den entscheidenden Hinweis für ihren Übergang in eine andere Welt gesetzt. Der winzige Ort, kaum 700 Einwohner, ist die letzte Station, bevor der „Appalachian Trail“ in die kanadische Topographie ausläuft. In Monsun, so sagt man, ruht man sich noch einmal aus, bevor einen die Weiten einer gigantischen Wildnis verschlingen.
Wer also war Berenice Abbott, die Frau aus Springfield, Ohio? Nur wenige biographische Splitter hatte sie zeitlebens über sich preisgegeben. Bekannt ist, dass Abbott, die allein von ihrer geschiedenen Mutter aufgezogen wurde, zunächst Journalistik an der Ohio State studierte, jedoch schon bald im brodelnden Kosmos der europäischen Avantgarde in Paris auftauchte, wo sie zunächst Bildhauerei studierte, dann aber bereits im Alter von 25 Jahren von Man Ray entdeckt wurde. In ihrer Zeit als Assistentin im Studio und in der Dunkelkammer lernte sie ohne Zweifel nicht nur die Feinheiten des Metiers kennen, sondern fand auch ihre ursprüngliche Begeisterung für das Medium bestätigt: „I took to Photography like a duck to water. I never wanted to do anything else.“
Mehr als dies war es der Hinweis Man Rays auf das Werk Eugène Atgets, der dem Leben der amerikanischen Photographin die vitale Wende brachte.
Das Werk Eugène Atgets war zu Beginn der zwanziger Jahre nur einem kleinen Kreis von Interessierten und Kennern zugänglich. Aus heutiger Sicht können wir sagen, dass die wahnsinnige Besessenheit Atgets, das Paris seiner Zeit in allen Details, Facetten und Spieglungen zu erfassen, für die junge Photographin eine Initialzündung war. Berenice Abbott war vom ersten Anblick an den Bilder Atgets verfallen. Obwohl sich beide nur kurze Zeit kannten – Atget verstarb bereits 1927 – kaufte die Photographin einen großen Teil des hinterlassenen Archivs der Negative auf und setzte sich Zeit ihres Lebens immer wieder für die Publikation der umfangreichen visuellen Dokumentation ein. Entscheidender jedoch war, dass Abbott mit dem Blick auf das Paris Atgets den Blick auf New York umfassend neu ausrichten konnte. Die Stadt war jetzt nicht mehr nur Metropole; sie offenbarte ein gewaltiges Potential für das Auge, das sich täglich, fast schon stündlich, im vitalen und geschäftigen Rhythmus zu wandeln schien. Und der Wandel machte sich in jedem Viertel bemerkbar. Es ist ein New York, in dem der Gegensatz vertikal aufstrebender Hochhäuser, gigantischer Brücken und weitreichender Straßenfluchten sich nun dominierend über die romantisch anmutenden Viertel wie das Village, seine Einzelhändler und die kleinen Stadthäuser erhob. Die Zusammenstellung dokumentiert dies in herausragender Form: Dem Band über New York hat man einen zweiten zur Seite gestellt, den über das „Greenwich Village“, der mit seinen stillen Tönen eines intimen Viertels das Pendant zur lautstarken Symphonie New Yorks bildet. Hier, wo Berenice Abbott ihre geistige Heimat in New York sah, wo Djuna Barnes und Duchamp, Noguchi und Hopper lebten und arbeiteten, ergießt sich die Stadt in Intimität und individuellen Gesichtern. Zwischen rohen Stahlträgern und pittoresken Hausfassaden erscheint uns die Photographin als begabte Chronistin einer Generation, die der Moderne den Weg in die Geschichte bahnte.
Wie andere wichtige Photograph*innen ihrer Generation, etwa Dorothea Lange oder Walker Evans, war auch Berenice Abbott von Zeit zu Zeit auf Auftragsarbeiten angewiesen, die es uns als Betrachter der Aufnahmen ermöglichen, einen anderen, einen weitreichenderen Blickwinkel als den der urbanen Dokumentaristin hinzuzufügen. In den vierziger und beginnenden fünfziger Jahren bereist Berenice Abbott ausgiebig weite Teile der USA. Auch hier wartet die umfangreiche Dokumentation des Werkes mit einer Überraschung auf: Man hat mit dem Band „Deep Woods“ der Abbott Kassette eine bisher unveröffentlichte Serie von Photographien beigelegt. „Deep Woods“ beschreibt in eindringlichen Bildern den Weg des Holzes von den großen Wäldern, dem Fällen der Bäume über den Transport bis zum Sägewerk – der Kontrast zwischen Natur, Landschaft und Mensch ist hier anders ausgeleuchtet als bei vergleichbaren Dokumentationen der Zeit.
Während wir sagen können, dass die emphatischen Aufnahmen von Dorothea Lange der Armut ein Gesicht verliehen haben, ist die Weitläufigkeit, die Übersicht, die uns Berenice Abbott mit ihren Bilden anbietet, in enzyklopädischer Breite angelegt. Abbots Photographien zielen auf das Ganze ab und zwar so sehr, dass man von einem frühen konzeptuellen Ansatz in der Photographie sprechen kann. Selbst dort, wo sie sich selbst die Aufgaben stellt, etwa in der Übertragung der Dokumentation von „Changing New York“ auf die Veränderungen entlang der amerikanischen Hauptverkehrsroute, der Route No. 1, die in Maine beginnt und bis weit bis nach Florida zieht, verlieren sich ihre Aufnahmen nicht in Wiederholungen. So wie sich in den verstreichenden Jahren Menschen und Architektur, die Karosserien der Limousinen oder die Reklame der Drugstores gewandelt haben, so wandelt sich auch der Blick durch die Kamera. Während New York pulsiert, finden wir uns jenseits der großen Straßen in einer Welt wieder, in der die Zeit wie ein ruhiger, langer Fluss erscheint.
Nicht zuletzt rufen sich die Bilder von Walker Evans ins Gedächtnis, die Leere der Ortschaften, in die menschliche Existenz in Proportion zur ausufernden Weite des Westens gesetzt wird. Doch auf die poetische Tiefe der Situation hat Abbott nie gesetzt, dafür war der sich selbst auferlegte Auftrag einer enzyklopädischen Darstellung von Stadt und Landschaft zu gigantisch.
Angesichts der überbordenden Fülle des Materials, welches uns Berenice Abbott hinterlassen hat, ist es ein Wunder, dass man überhaupt zu einer Auswahl gekommen ist. Die klare Strukturierung der vorliegenden Bände spricht nicht nur von einem tiefgehenden Verständnis für die Photographie Berenice Abbotts, sondern auch von einer originären Begeisterung, einem „Glühen“ für die publizistische Verbreitung des Werks. Hier setzen sich Esprit und Begeisterung fort, mit dem sich Berenice Abbott für die Aufnahmen Atgets begeistern konnte.