Mit seinem 1943 veröffentlichtem Buch „Die Fabrik – Ein Bildepos der Technik“ hat der Schweizer Fotograf Jakob Tuggener (1904-1988) ein hohes Maß an ästhetischem und konzeptionellem Bewusstsein bewiesen: Es gilt als Meilenstein in der Geschichte des Fotobuches. Eigentlich kein Wunder, schließlich war Tuggener nicht nur Fotograf, sondern auch Maler und Filmemacher. Dabei beginnt es eher harmlos mit Außenansichten von Hallen und Industrieanlagen in einer idyllischen Flusslandschaft. Es sind sehr harmonisch gestaltete Aufnahmen wie aus Firmenbroschüren und tatsächlich stammen einige Fotos aus dem Buch auch von Auftragsarbeiten. Dann folgen Porträts, vor allem aber Maschinen und Technik, Dampf und Schornsteine, flüssiges Metall und riesige Hallen. Dazwischen tummeln sich immer wieder Menschen bei der Arbeit, teilweise winzig klein und im wahrsten Sinne des Wortes von den Maschinenteilen eingezwängt, die aber gerade deshalb auch ein selbstverständlicher Teil des Ganzen und somit unverzichtbar sind.
Tuggeners Buch, das bei Erscheinen nicht gerade ein kommerzieller Erfolg war und gleichzeitig von den Kritikern sehr positiv bewertet wurde, ist auch die Basis für sein hohes Ansehen als Künstler. „Die Fabrik“ zeichnet vielleicht ein kritisches, aber auf keinen Fall ein ausschließlich pessimistisches Bild, wie dem Buch beispielsweise von Martin Gasser im Nachwort unterstellt wird: Anders als in Charlie Chaplins Anti-Industrialisierungs-Film „Modern Times“, in der der Mensch sinnbildlich zwischen die riesigen Zahnräder gerät und unter dem zu schnellen Takt der seelenlosen Maschinen leidet, gehen bei Tuggener Mensch und Maschine eine untrennbare Symbiose ein – die Arbeit ist nicht leicht, aber man erfüllt sie mit Stolz, Würde und Verantwortungsbewusstsein. Und im Laufe von „Schwarze Fabrik“, wie Tuggener sein Buch ursprünglich nennen wollte, verschwinden auch Dampf, Hitze und Mühsal – die Arbeit scheint einfacher, klarer und vor allem sauberer zu werden. Gleichzeitig wirken die Menschen bei Tuggener aber auch müde, desillusioniert und in sich gekehrt – vielleicht, weil sie als neutrale Schweizer unter anderem Waffen für ein in Schutt und Asche liegendes Europa produzieren, wie es auf den letzten beiden Doppelseiten mit drei (Kampf)flugzeugen am Himmel, einer Spielzeugfigur zwischen einer Armee aus Munition und einem nachdenklich bis resigniert schauenden Arbeiter angedeutet wird?
Unterstrichen wird dies noch durch Tuggeners stark subjektive Fotografie, die maßgeblich vom deutschen expressionistischen Film der 1920er Jahre beeinflusst wurde: Mit ganz- und doppelseitigen Aufnahmen und den daraus resultierenden Gegenüberstellungen, der sehr klaren Bildsprache und der erzählerischen Reihung, die fast an einen Stummfilm erinnert, wirkt das Buch jedenfalls klassisch und sehr modern zugleich.
Leider hat dieses wunderbar komplexe Buch einen Haken: Es gibt es nur noch im Antiquariat und dort ist es kaum für unter 1000 Euro zu bekommen. Der Steidl Verlag hat diese Rarität deshalb neu herausgebracht – und zwar als Eins-zu-Eins-Faksimile, gedruckt auf schwerem Papier. Sogar der Original-Schutzumschlag wurde übernommen, so dass auf dem Buchrücken nicht Steidl, sondern der Rotapfel-Verlag aus Zürich sowie weitere Buchtipps wie „Herrliche Alpentiere“ und „Blumen auf Europas Zinnen“ stehen. Und das ist auch gut so, denn so sehr eine Neugestaltung mancher Fotobuchklassiker Sinn macht, so wichtig ist es, „Die Fabrik“ im Original-Zustand zu belassen, um in den vollen Genuss des ursprünglichen Buches zu kommen. Dafür sind das Design und die Kraft der Bilder einfach zu zeitlos.
Jakob Tuggener: „Die Fabrik“, 104 Seiten mit 72 Abbildungen, fester Einband, Steidl, ISBN 978-3-86521-493-5
Gibt es auch bei artbooksonline.eu