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Doug Rickard: A New American Picture

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Doug Rickard ist nicht der einzige Künstler, der sich das gigantische Bildmaterial von Google Street View für seine eigene Arbeit zu Nutzen macht. Jon Rafman versammelt in seinem fortlaufenden Online- und Buchprojekt „9-Eyes“ die absurdesten Situationen, die die mit neunäugigen Kameras ausgestattete Autos von Google zufällig eingefangen haben, und Michael Wolf hat seine kaum weniger merkwürdigen, bizarren, bedrohlichen, lustigen, kurzum: außergewöhnlichen Fundstücke zum Buch „a series of unfortunate events“ manifestiert.


Der wesentliche Unterschied von Doug Rickards „A New American Picture“ zu den Arbeiten von Rafman und Wolf liegt in seinem Interesse für das Alltägliche. Der Amerikaner ist zwei Jahre lang auf den Straßen von Google Street View durch die USA „gereist“ und hat Orte wie Detroit, Baltimore und New Orleans, die Bronx, Memphis und Dallas, aber auch weit weniger Bekanntes wie Okeechobee, Norfolk und North Tunica besucht. Die sich auf seinem Monitor ausbreitenden Landschaften hat Rickard nach betont unspektakulären Straßenszenen durchforstet, auf denen das trostlose, heruntergekommene Amerika mit seinen weitläufigen Vorstädten zu sehen ist, in denen Menschen meist vereinzelt und als (gestalterische wie gesellschaftliche) Randfiguren auftauchen. Es sind die Randgebiete, die von der weißen Bevölkerung gemieden werden. Rickard besuchte diese No-Go-Areas zumindest virtuell und fotografierte sie mit seiner Kleinbildkamera vom Bürostuhl aus ab – eine neue Art des Drive-By-Shootings, wenn man so will. Keine Spur von Glamour oder Sehenswürdigkeiten ist auf den Bildern zu sehen, keine Anzeichen von „entscheidenden Augenblicken“, wie sie für Fotografen im Allgemeinen und für Street-Photographer im Speziellen doch so typisch sind. In gewisser Weise folgt Rickard der Tradition von Walker Evans und natürlich Robert Frank, William Eggleston und Stephen Shore – nur ist seine Vorgehensweise außergewöhnlich. Wenn man so will, definieren die Google-Aufnahmen den Begriff der „demokratischen Fotografie“ neu.


„A New American Picture“ ist erstmals 2010 im kleinen Verlag White Press erschienen bevor Aperture und Walther König das Buch 2012 erneut veröffentlichten. Mit dem Titel spielt Rickard übrigens gleich doppelt auf die amerikanische Fotografiegeschichte an, nämlich auf Walker Evans legendäres Buch „American Photographs“ von 1938, aber auch auf die Ausstellung „New Topographics“ aus dem Jahr 1975. Evans zeigte Straßenszenen, anonyme Architektur und blickte in die Wohnungen der Unterprivilegierten. Die Fotografen der New-Topographic-Bewegung interessierten sich für ein neuartiges Landschaftsbild, das mit den emotionalen Aufnahmen eines Ansel Adams höchstens noch die feine Gestaltung und die technische Qualität gemein hatten: Sie fotografierten die vom Menschen veränderten Gebiete mit landwirtschaftlich genutzten Flächen, Brachland und Randbereichen, Wegen, Straßen, Plätzen, Wohn- und Gewerbesiedlungen, historisch gewachsenen oder sich im Bau befindlichen Industrie- und Stadtarchitekturen. Vor allem aber nahmen sie sich als Urheber weitgehend zurück: Das ideale fotografische Dokument würde ohne Autorenschaft oder Kunst erscheinen, formulierte es Lewis Baltz damals.


Das macht Doug Rickard, der Autodiakt, genauso – und nutzt Bilder, die eine automatisierte, standardisierte und vor allem völlig emotionslose Kamera, montiert auf dem Dach eines Autos, auf den amerikanischen Straßen aufgenommen hat. Dass er sich zugleich dagegen entschied, Googles neue HD-Fotos für sein Projekt zu nutzen und stattdessen auf die alten, unschärferen Bilder zurückgriff, sorgt dafür, dass die Fotos künstlich, distanzierter, aber auch zeitloser wirken. Und sie führen uns vor Augen, dass sich seit Walker Evans für große Teile der amerikanischen Bevölkerung nichts geändert hat. Konzeptionell halte ich „A New American Picture“ für ein unerlässliches Standardwerk, das die Fotografie unter neuen Vorzeichen unter die Lupe nimmt und dem New Topographic-Movement einen weiteren Aspekt hinzufügt.

Doug Rickard: „A New American Picture“, 144 Seiten, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2012, ISBN 9783863352097

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